Agilität braucht keine Wälzer

Corona hat uns voll ausgebremst – und gleichzeitig nach vorne katapultiert. Warum wir dabei das neu entdeckt haben, was Reflexion leisten kann und jede Menge Bücher zum Altpapier gebracht haben.

„A ROLLING STONE GATHERS NO MOSS” – so heißt eines der schönsten Bücher in meinem Regal, das für mich persönlich auch eines der wichtigsten ist: Es ist ein Fotobuch, das mein Bruder vor vielen Jahren für mich gestaltet hat. Und weil ein rollender Stein wie ich auch in einem Lockdown nicht zur Ruhe kommt, war eben mein Bücherregal dran: Mehr als einen Meter Bücher habe ich aussortiert. Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich liebe Bücher sehr und das Fotobuch meines Bruders würde ich niemals aus der Hand geben. Aber mancher 240-Seiten-Wälzer zu einer bestimmten Business-Methode, die vor zehn oder zwanzig Jahren zeitgemäß schien, passt 2020 nicht mehr. Wir sind längst weiter.

Der Lockdown hat uns gezeigt, dass wir sehr schnell sein können. Mit meinem Team habe ich in dieser Zeit unser welearning-Programm so weiterentwickelt, dass davon jeder auch vom heimischen Sofa aus profitieren kann. Geht doch! Geholfen hat uns dabei keine komplizierte Methode und keine langwierige Planung. Agilität heißt: Ausprobieren, machen, Mut zeigen, schnell sein. Mit dem Satz „Uncomplicate your business!“ könnte ich diesen Blog jetzt abschließen und mich gemütlich zurücklehnen.

Reflexion neu verstehen

Wenn da nicht diese andere Seite der Sache wäre. Die Diskussion rund um Agilität, Design Thinking und Co. klingt oft so, als mache Tiefe keinen Sinn mehr. Als dauere Reflexion zu lange. Als könne sich es niemand mehr leisten, lange nachzudenken. Weil es entweder zu teuer ist oder zu langweilig. Im TikTok-Zeitalter gilt: „Wer langweilt, fliegt raus.“ Was hilft uns also, wenn wir mit alten Business-Büchern nichts mehr anfangen können, und TikTok-Thinking immer nur an der Oberfläche kratzt?

Ich meine: Wir müssen Reflexion noch einmal neu verstehen. Methoden oder Modelle nehmen uns das Denken nicht ab, sie sind weder per se wahr noch objektiv, sie sind lediglich Versuche, Komplexität so lange zu reduzieren, bis sie auf eine Buchseite passt oder in eine Minute Sendeschnipsel. Was sinnvoll sein kann, um sich einem komplexen Thema anzunähern – aber eine Methode ist noch lange keine Lösung. Was wir brauchen, so mein Eindruck, ist ein schrittweises Entdecken neuer Perspektiven unter dem Wust der eigenen Erwartungen, Erfahrungen und Vorurteile. Ein schrittweises Entwirren unserer Themen aus der Komplexität der Marktstrukturen, der Medienentwicklung, der politischen Verwerfungen. Ein schrittweises Verstehen der Wünsche, der Sehnsüchte und Bedürfnisse unserer Kunden. Und eine schrittweise Annäherung an mögliche neue Kunden, an neue Kooperationspartner, an neue Medienformate.

Business ist Bewegung

Eine Methode für immer in Stein meißeln heißt, Bewegung stillstellen. Business funktioniert anders. Business heißt, die Dinge verstehen und in Bewegung halten. Deshalb ist es gut, hin und wieder einen Meter alter Bücher rauszustellen – und Platz zu schaffen für neue Gedanken, neue Möglichkeiten, neue Perspektiven.

Wie sehen Sie das?